Bologna und seine Folgen für die Mathematikausbildung

Die Überschrift stimmt ein Thema an, bei dem sich Dozenten aller Fachrichtungen in Rage reden können. Manchmal packt es mich auch. Das geschieht immer dann, wenn ich die Reform aus Sicht der Studenten sehe.

Ich werde im nächsten Semester Funktionentheorie lesen. Man kann über diese Vorlesung, die früher als unbedingtes Grundwissen jedes Mathematikers angesehen wurde, geteilter Meinung sein. Passt sie noch in einen modernen, anwendungsorienierten Bachelor-Studiengang oder nicht? Ich meine, schon diese Frage zeigt, wie sehr wir vom Ideal der Bildung abgekommen sind und nur noch in der Kategorie „Ausbildung für die Praxis“ denken. Die aufgezwungene Verkürzung des Studiums zwingt dazu, die Module auf vermeintlich relevante Inhalte zu reduzieren. Die Funktionentheorie hält sich da nur noch im Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, und dem entsprechend ist die Hauptkompetenz das Bestehen des schriftlichen Examens.

Die Frage, die mich umtreibt, ist allerdings eine andere. Wie soll ich eine Veranstaltung, die mit 5 Kreditpunkten gewertet wird, so gestalten, dass ein vertieftes Wissen entsteht? Wer schon einmal Mathematik studiert hat, weiß, dass man mit zwei Vorlesungen im Kernfach Mathematik mehr als ausgelastet ist. Nie habe ich selbst mich um mehr als zwei Vorlesungen wirklich gekümmert. Die beiden anderen Veranstaltungen im Nebenfach wurden per Lernmarathon vor der Klausur absolviert. Erleichtert wurde das dadurch, dass nur eine schriftliche Prüfung zum Vordiplom im Nebenfach vorgesehen war.

Heute haben die Studenten aber 6 mal 5 Kreditpunkte in einem Semester zu erwerben, und sie müssen überall die Prüfung bestehen. Das heißt, ihnen steht für ein Thema maximal ein Tag in der Woche an geistiger Auseinandersetzung mit dem Stoff und an Übung zur Verfügung. Mehr zu tun, wäre gefährlich für den Studienerfolg oder die Gesamtnote. Alle Prüfungen sind gleich gewichtet, und die resultierende Gesamtnote ist alles, was zählt. Sie entscheidet über Bewerbungen, entweder zum Master oder im Beruf. Im Staatsexamen sieht die Lage zwar nicht ganz so kritisch aus, da das zweite Staatsexamen und damit die Lehrpraxis eine viel größere Gewichtung hat.  Die Anzahl der zu absolvierenden Pflichtmodule ist aber auch dort beängstigend groß.

Die Folge muss eine plakative Veranstaltungen sein, die die für das Staatsexamen notwendigen Inhalte ohne Reflexion in den Mittelpunkt stellt. Man kann nicht erwarten, dass die Studenten mehr Interesse als notwendig einbringen. Eher muss man Studenten, die sich mit dem Stoff zeitaufwändig beschäftigen, vor den Folgen ihres Tuns warnen. 

Ich glaube nicht, dass Studenten früher besser und fitter waren. Die Leistungen waren schon immer sehr gemischt. Aber ich habe Studenten zu Persönlichkeiten heranwachsen sehen, denen ich im ersten Semester nicht viel zugetraut hätte. Am meisten geschah diese Verwandlung während der Zeit, in der die Diplom- oder die Zulassungsarbeit erstellt werden musste. Es ist genau die vertiefte Beschäftigung mit einem Thema, die einen Studenten zum Mathematiker werden lässt. Ich weiß nicht, wo heute der Platz für eine solche Entwicklung noch sein sollte. Die Kleinteiligkeit der abzuarbeitenden Modulliste und der Prüfungszwang fördert vielleicht die Kompetenz „Lernen“, behindert aber die Kompetenz „kritisches Verstehen“.

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