„Die Studenten werden immer schlechter!“

Das Sommerloch ist da. Und prompt schießen die „Immer mehr“-Artikel im Blätterwald aus dem Boden wie die Pilze im Herbst. Das reicht von „immer mehr“ Gewalttaten bis zu „immer häufigeren“ kalten Sommern. Wenn sie beim Wetter blieben, wär es mir ja egal, obwohl auch das Unsinn ist. Aber heute morgen muss ich den seit Cato dem Älteren (dem ich damit womöglich unrecht tue) wiederholten Spruch von der „immer schlechteren“ Jugend auf der Titelseite lesen. Natürlich alles ohne konkrete Zahlen, reines Schreibgeschwurbel.

Man muss zugeben, dass die Journalisten diesmal nur eine Handvoll Wissenschaftler befragt haben, die wiederum eine etwas größere Zahl anderer Wissenschaftler befragt haben, was sie denn von den „heutigen“ Studenten so halten. Das alles wird per Agentur eingedampft und lokal aufbereitet, plus Interview mit einem lokalen Wissenschaftler unter der Überschrift „Das Komma verschwindet“. Lauter Catos unter sich, wenn ich seinen Namen noch einmal stellvertretend für die seit Äonen überlieferte Neuigkeit, dass die Jugend „verderbt“ sei, gebrauchen darf. Dass man sich sowas noch zu schreiben traut!

Im Artikel steht, dass die Jugend andererseits immer „intelligenter“ würde, was genauso unsinnig ist, weil der durchschnittliche IQ per Definition bei 100 liegt. Nur, die Jugend kann halt „immer weniger“ lesen und sich auf längere Texte konzentrieren! Pfff, sie konnte das noch nie! Nur eine Elite war zu meiner Jugendzeit literarisch gebildet. Schon damals war offensichtlich, wie gering der durchschnittliche Buchbestand in deutschen Haushalten war. Die gleiche Elite, die Geld und Muße genug hatte, sich um Literatur zu kümmern, schickte damals auch ihre Brut aufs Gymnasium, möglichst ein altsprachliches. Die Aufstiegsmöglichkeiten waren weit schlechter als heute.

Wenn ich einen Eindruck habe, dann ist es der, dass die Bevölkerung heute im Durchschnitt gebildeter ist als früher. Immerhin gehen die Verkaufszahlen der Bildzeitung seit Jahren zurück. Das ist doch schon ein Indiz! Oder will man das als weiteres Zeichen von Leseunlust umdeuten? Auch die verbreitete Esoterikszene kann mich von diesem positiven Urteil nicht abbringen.

Dass heute nur wenige einen Blog wie diesen von Anfang bis Ende durchlesen, mag sein. Ich zweifele aber, dass es „immer weniger“ sind. Nicht angesichts von knapp einer Million Blogs weltweit, viele davon mit mehr Text, als zum Beispiel ich selbst vertrage. Angesichts dieses Kommunikations-Overkill mit einer ganzen Welt buchstäblich an den Fingerspitzen bin ich dann doch geneigt, bei der Kommasetzung leichte Abstriche hinzunehmen.

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