Das Thema „Kalte Progression“ ist ja derzeit in aller Munde. Aber ich wette, dass kaum einer versteht, worum es da geht. Diverse Kommentare in den Nachrichten bestätigen diese Vermutung. Es wird sogar bisweilen davon gesprochen, dass die Steuer die Lohnerhöhungen auffressen würde. Das ist Unsinn.
Die Funktion „steuer()“ im Programm unten berechnet die Steuer nach der offiziellen Steuerfunktion von 2010-2014 (trotzdem keine Garantie meinerseits). Wir nehmen als Beispiel einen allein stehenden Facharbeiter mit 40000€ Jahresgehalt. Wie man sieht, beträgt sein häufig überschätzter Steuersatz, also der Anteil der Steuer am gesamten Bruttogehalt, nur etwa 22.5%. Bei einer 2%-igen Gehaltserhöhung bekommt er von den 800€ noch 510€ heraus. Die Steuer steigt um 290€. Das liegt am sogenannten „Grenzsteuersatz“, der bei ihm etwa 36% jeder Gehaltserhöhung auffrisst.
Übrigens steigt der Steuersatz nur um 0.3% an. Da dieser minimale Anstieg sich aber auf das gesamte Gehalt auswirkt, werden nicht nur 22.5% von 800€ fällig, was etwa 180€ wären, sondern die genannten 290€.
Dass der Steuersatz (im Beispiel 22,5%) nicht gleich dem Grenzsteuersatz (im Beispiel 36%) ist, ist übrigens eine notwendige Folge der „Progression“, die dafür sorgt, dass höhere Einkommen einen größeren Anteil ihres Einkommens als Steuer bezahlen. Mit der „kalten Progression“ hat das erst mal nichts zu tun. Die Progression ist in jedem Steuersystem schon dann notwendig, wenn es Freibeträge für sehr niedrige Einkommen vorsieht. Außerdem ist sie eine verfassungsmäßige Notwendigkeit.
Was ist nun die „kalte Progression“? Sie entsteht dadurch, dass man eine Gehaltssteigerung in Höhe des Inflationsausgleichs als automatisch annimmt. Eine solche wünschenswerte Steigerung bewirkt, dass für den Gehaltsempfänger der Steuersatz steigt. Und der wirkt sich, wie gesagt, auf das gesamte Gehalt aus. Was eine Gehaltserhöhung also wirklich auffrisst, ist die Inflation!
In anderen Ländern wird zum Ausgleich die Steuerkurve in jedem Jahr angepasst. Gehaltserhöhungen im Rahmen des Inflationsausgleichs wirken sich dann nicht mehr auf den Steuersatz aus. Da die ausgehandelten Steigerungen oft sogar unter dem Inflationsausgleich liegen, bedeutet die Anpassung der Steuerberechnung für viele sogar ein zusätzliches Steuergeschenk. Ich finde das fair.
Man wird natürlich den Einwand zu hören bekommen, dass die Abgaben nicht allein aus der Lohnsteuer bestehen, sondern Sozialabgaben (Rente, Pflege und Arbeitslosigkeit) und die Beiträge für die Krankenkasse umfassen. Für mich sind diese Abgaben allerdings schlicht Versicherungsbeiträge, wie sie in anderen Ländern privat zu tragen wären. Sie unterliegen außerdem nicht der Progression, sondern sind im Gegenteil sogar auf Höchstbeträge limitiert und wirken sich nicht auf Kapitalerträge aus.
Weiter wird man zu hören bekommen, dass bei einem kleineren Zweitverdienst des Ehepartners die Sachlage schlimmer wäre. Das ist aber nicht der Fall. Beim Lohnsteuerjahresausgleich wird der Steuersatz des halben Gesamteinkommen genommen und dann auf das gesamte Einkommen angewendet (Ehegattensplitting). Der Grenzsteuersatz ist ebenfalls viel geringer. Wenn also zu 40000€ ein Zuverdienst von 800€ des Ehepartners kommt, bleibt noch deutlich mehr als die oben berechneten 510€ über.
>function map steuer (x:scalar, verheiratet:integer=0) ... $ if verheiratet then xs=x/2; f=2; else xs=x; f=1; endif $ if xs<8130 then return 0 $ elseif xs<13470 then $ y=(xs-8130)/10000; $ return (933.7*y+1400)*y*f $ elseif xs<52881 then $ y=(xs-13470)/10000; $ return ((228.74*y+2397)*y+1014)*f $ elseif xs<=250730 then $ return (0.42*xs-8196)*f $ else return (0.45*xs-15718)*f $endif $endfunction >function prefix eu (x) := cprint(x)+" €"; // Formatierung in € >function prefix pp (x) := print(x->%,2,unit=" %"); // Formatierung in % >E=40000; eu E, eu steuer(E), eu E-steuer(E) 40 000.00 € 8 983.21 € 31 016.79 € >pp steuer(E)/E 22.46 % >Z=40000*2%; eu E+Z, eu steuer(E+Z), eu E+Z-steuer(E+Z) 40 800.00 € 9 273.53 € 31 526.47 € >eu Z-(steuer(E+Z)-steuer(E)) 509.68 € >pp steuer(E+Z)/(E+Z) 22.73 % >pp diff("steuer",E) 36.11 %
Die folgende Grafik zeigt noch einmal eine Übersicht über die Steuersätze und Grenzsteuersätze, jeweils für einen nicht Verheirateten (oder einen Verheirateten, dessen Ehepartner dasselbe verdient) und für einen allein verdienenden Ehepartner (blau).