Übungen – Freiwillig oder mit Peitsche?

Ich rege mich schon seit einiger Zeit darüber auf, dass immer noch Mathematik-Dozenten die Übungen als Prüfung ansehen. Bei der letztjährigen Tagung der mathematischen Fachbereiche kam das Thema zur Sprache, mit dem Tenor, dass die dummen Modularisierungsregeln eine Verankerung der Übungen als Prüfung nicht erlauben würden, und ob man etwas dagegen tun könne. Ich habe die Hoffnung, dass meine Werbung für freiwillige Übungen wenigstens bei einigen auf offene Ohren gestoßen ist. Da ich nun von Studentenseite wieder mit dem Thema konfrontiert wurde, ist es Zeit für diesen Blogeintrag – in deutsch, denn das ist ein rein deutsches Thema.

Verpflichtende Übungen, also zum Beispiel 50% der Lösungen mit oder ohne Bewertung des Vorrechnens, oder auch eine verpflichtende Übungsklausur, egal wie niedrig der Pflichtsatz ist, sind rechtlich und didaktisch ein schlechte Idee.

Hier zunächst die rechtlichen Probleme.

  • Aufgrund der Härten der Modularisierung gibt es in den meisten Ländern Erlasse, dass zu jeder Prüfung eine zeitnahe Wiederholungsmöglichkeit gegeben werden muss. Das gilt auch für Seminararbeiten oder sonstige Arbeiten, und zwar mit einer Nachbesserungsmöglichkeit. Die Chance, seine Leistung zu verbessern, sollte jeder bekommen. Wie aber ist das bei einer verpassten Übungsquote sinnvoll möglich und machbar? Und wollen wir wirklich Zulassungsklausuren mit Wiederholungsprüfung?
  • Verpflichtende Übungen sind ungerecht, bis zu dem Grad, dass ein Student gegen die Rückweisung von der Klausur klagen könnte mit dem Argument, dass der Student neben ihm alle Übungen abgeschrieben hat, oder dass er sich hat helfen lassen. Übungen, die zu Hause gemacht werden, erfüllen nicht die Kriterien einer gerechten Prüfung. Auch das Vorrechnen hilft da nicht, da das Abschreiben der eigenen Lösung vom Blatt keine Prüfung ist, und zusätzliche Prüfungsfragen rein zufällige mündliche Noten ergeben würden.

Es soll auch Universitäten geben, in denen die Tutorien, die eigentlich vom Studenten bezahlt werden um ihm zu helfen, Pflichtveranstaltungen sind, bei denen sowohl Anwesenheitspflicht, als auch Mitwirkungspflicht besteht, die beide in die Beurteilung eingeben, ob der Student der Prüfung würdig ist oder nicht.

Neben diesen schwerwiegenden rechtlichen Bedenken gibt es aber auch ebenso gewichtige didaktische und menschliche Probleme.
  • Die Drohung mit einer Quote veranlasst den Studenten vom ersten Tag an, Übungen abzuschreiben. Er wäre dumm, wenn er diese Möglichkeit nicht in Anspruch nähme, insbesondere, wenn man den Druck von 4-6 gleichzeitig zu bestehenden Modulen bedenkt. Statt dessen sollte die Übung zum selbständigen Erarbeiten des Stoffes anregen, auch wenn das schief geht. Eine Quote zwingt ihn geradezu zum Gegenteil von dem, was ein gutes Studium ausmacht, dem selbständigen Arbeiten. Jeder, der schon einmal Übungen korrigiert hat, bei denen eine Drohung dahinter steht, weiß das.
  • Vom Klassenprimus abgeschriebene Lösungen geben dem Dozenten ein falsches Feedback über den Stand seiner Studenten. In der Praxis bleibt dem Dozenten nichts anderes, als die Abschreiberei zu akzeptieren, und die Klausur dann erheblich leichter bis trivial zu gestalten. Professoren machen sich im Allgemeinen nicht das geringste Bild darüber, wie viel tatsächlich unten ankommt. Das durch die Quoten erzwungene Abschreiben trägt zu dieser Selbsttäuschung bei.
  • Man kann den Unterschied zwischen Schulmathematik und einem Mathematikstudium gar nicht hoch genug einschätzen, insbesondere wenn man die Kenntnisse der meisten Dozenten darüber kennt, was in der Schule wirklich dran kommt, und was nicht. Folglich erleben die Studenten das ganze erste Studienjahr als fortgesetzten Frust, und das Studium wird zur Probe auf Frusttoleranz. Dauernd kommt neuer Stoff, und dieser Stoff muss sofort selbständig angewendet werden, und zwar, das ist das Entscheidende, mit Prüfungsdruck! Fällt dieser Prüfungsdruck weg, wird die Übung zu dem, was ihr Name sagt, einer Übung, bei der auch mal was schief gehen kann.
  • Jeder Mathematiker sollte wissen, dass Probleme im Nachhinein leichter aussehen als vorher. Oftmals erscheinen die eigenen Papers im Rückblick als simple Leistung. Das ist bei Studienanfängern nicht anders. Warum sollte dieser Lernprozess abgeprüft werden? Denn auch der Prozess, sich selbst an einem Problem zu versuchen, ist etwas, das man lernen muss.
  • Was für eine Menschenbild liegt eigentlich der Quote zugrunde? Doch wohl kein sehr positives. Es ist das Bild, das alternde Dozenten eben von Studenten haben: ein unmotivierter und ungebildeter, lernunwilliger Haufen, den man zur Arbeit zwingen muss. Die Studenten empfinden das zu Recht als Zumutung. Insbesondere deswegen, weil ihre Hausaufgaben schon seit Jahren nicht mehr kontrolliert, oder gar benotet wurden.

In der Praxis sieht das so aus.

  • Freiwillige Übungen machen sicherlich mehr Arbeit. Statt 30 Kopien derselben Lösung bekommt man nun 30 verschiedene Lösungsansätze.
  • Man bekommt dafür ein genaues Bild darüber, wie die Dinge überhaupt verstanden werden.
  • Werden die Studenten nicht zwischenzeitlich von anderen Dozenten mit diesem unseligen Abschreibzwang verdorben, so machen sie die Übungen bis zum Studienende freiwillig in großer Zahl.
  • Das gilt insbesondere dann, wenn die Klausur mit Hilfe der Übungen erreichbar wird, wenn also die Übungen etwas mit der Klausur zu tun haben, und wenn die Studenten das zuverlässig wissen.

3 Gedanken zu „Übungen – Freiwillig oder mit Peitsche?

  1. tb

    Hallo,

    zufällig auf dieses Blog gestoßen, finde ich die Gedanken und Argumente doch sehr interessant und würde das gerne aufgreifen.
    Ich selbst bin bei dem Thema etwas gespalten, ich kann mich bei beiden Seiten nicht in der rein binären Ansicht anschließen.

    Deshalb dann die kritische Seite mit der Antithese:
    -Davon auszugehen, dass alle Studenten sich freiwillig, intrinsisch und ausreichend mit den Inhalten beschäftigen, ist sowohl statistisch als auch menschlich schwierig. Eine extrinsische Motivation für diejenigen, die sich nicht damit beschäftigen, führt damit zumindest zu einer gewissen Minimalkonfrontation. Über das abschreiben bei Abgaben kann man diskutieren, aber für das Vorrechnen oder Übungsklausuren hält die Aussage.
    Zu sagen, dass wäre doch jedem selbst überlassen ob sich damit beschäftigt wird oder nicht, finde ich auch an einer Hochschule ein etwas einfaches Argument. Wenn das Argument wirklich greifen würde, müsste und sollte man auch alle weiteren Zwangsmaßnahmen direkt einstellen, insbesondere auch beliebig viele Versuche auf eine Klausur gewähren und ähnliches.
    Ich bin eher damit einverstanden, dass man sich frei für ein Studium entscheiden darf. Wenn man sich aber einschreibt, stimmt man zu, dass man sich dem Bildungsauftrag der Hochschule unterwirft. Dazu gehört dann gegebenenfalls auch, dass die Hochschule mir eine Beschäftigung mit dem vorgesehenen Curriculum naheliegt.

    -Die Ursache für das Argument mit zu viel zu tun liegt doch dann an anderer Stelle begraben. Erfahrungsgemäß kommt es daher, dass jeder Dozent der Meinung ist, für seine Übung ist in der einen Woche doch mehr als ausreichend Zeit. Und eigentlich sind die Aufgaben doch offensichtlich, die Beweise/Antworten in 10 Minuten heruntergeschrieben. Dann sollten eher die in den letzten 10 Jahren zur Verfügung gestellten Werkzeuge (ECTS, Evaluierung, etc) genutzt und gelebt werden (ja, dafür ist Diskurs und Bereitschaft erforderlich). Das zeitliche Argument wird selten akzeptiert und aufgegriffen wenn es darum geht selbst konkret gegenzuwirken, meistens wird es dann in Stellung gebracht wenn aufgezeigt wird wie schlecht ist.

    -Die obigen Argumente gehen nur auf contra Pflichtübungsabgabe ein (Pflichtanwesenheit ist hoffentlich überhaupt nicht zu diskutieren, da stimme ich der klar binären Sicht 0 zu). Wie sieht es mit Übungsklausuren, oder noch weiter gedacht beispielsweise mit einem kleinen 10 – 15 minütigen Test zu jeder Übung aus, bei denen 50-75% der Gesamtpunkte erreicht werden müssen? Damit wären viele der genannten Kritikpunkte entgegengetreten.

    -Erfordern unterschiedliche Hochschultypen nicht eine differenzierte Vorgehensweise, oder sollte man obige Argumente auch auf nicht-Universitäten übertragen?

    Ich würde mich über eine weitere Argumentation freuen, ich bin in der Thematik auf der Suche nach unterschiedlichsten Perspektiven. Der Blogpost stimmt mich zuversichtlich, eine interessante Antwort zu bekommen (sofern Zeit/Interesse an einer Antwort besteht)

    Gruß
    tb

    Antworten
  2. rgr Beitragsautor

    Selbstverständlich besteht Interesse an einer Antwort, und dafür sollte man die Zeit finden.

    Ich bin mir bewusst, dass extrinsische Motivationen im Leben notwendig sind. In diesem Punkt haben Sie mich missverstanden. Aber meinen Sie nicht, dass die Motivation durch die drohende Klausur am Ende des Semesters genügt? Ich wiederhole, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass gut gestellte und von Studenten lösbare Aufgaben auch ohne „extrinsische Motivation“ bearbeitet werden, eben weil die Student sich deren Relevanz für das Studienergebnis bewusst sind.

    Wenn Sie auf Hürden verzichten, haben Sie übrigens plötzlich die Gelegenheit, auch Aufgaben zu stellen, die eben nur die besten herausbekommen. Also diejenigen, die begabt und genügend „intrinsisch“ motiviert sind. Das macht dann nichts aus. Man muss schon sehr hart gesotten sein, wenn man solche Aufgaben zum Aussieben der nicht so schnell Begreifenden verwendet.

    Ich bin übrigens ein großer Freund von Tests, insbesondere von sogenannten „Wiederholungstests“. Das sind Abfragen von Wissen und Fertigkeiten, die helfen, das Abgefragte im Gehirn zu verankern, schnelle kleine Rückfragen zum Stoff. Dies könnte nach jeder Übung oder Vorlesung, oder im Internet, geschehen. Bisher sind solche Lernhilfen nicht existent. Aber bitte nicht unter dem Zwang, bei Nichtbestehen die Zulassung zum Studium zu verlieren.

    Wenn Sie glauben, es gäbe hierüber eine Diskussion, dann täuschen Sie sich, Vielleicht müsste man ein wenig provozieren? Nach meiner Erfahrung sind die meisten Dozenten von der Dummheit und der Faulheit ihrer Studenten überzeugt. Außerdem sind sie nicht wirklich an der Lehre in der breiten Masse interessiert. Fügt man ein wenig Rache wegen der Erfahrungen ihrer eigenen Studienzeit hinzu, dann sieht man, dass sich am Lehr- und Prüfungsstil nicht viel ändern wird.

    Antworten
  3. tb

    Danke für die Antwort, sie erläutert einige Thesen des Artikels tiefer.

    Bei extrinsischer Motivation durch eine am Ende drohende Klausur würde ich doch dann auch so weit gehen und die Wirksamkeit hinterfragen. Ein Semester ist lang, die Klausur in weiter Ferne, es ist ja noch genug Zeit viel dafür zu machen. Die Stelle, an der sie das Verhalten steuert, geht gerne über zu einem Anflug der Nervosität und Steigerung des Zeitmanagements wegen der Klausur „nächste Woche“. Dass es dann schwierig wird, predigen heutzutage vermutlich schon die Grundschulen.
    Deshalb sehe ich das schwierig mit der extrinsischen Motivation durch die Klausur. Haltbare Nachweise für den zeitlichen Verlauf könnten die Beteiligungsgröße an Vorlesung & Übungen, ebenso die Aufenthaltsdauer und Lernphasen an der Hochschule sein.

    Mit dem verzichten auf Hürden und dem Stellen von anspruchsvolleren Aufgaben, endet man wieder schnell in der Workload Falle. Wie sollte man den durchschnittlichen Zeitaufwand von gelöst in ein paar Stunden und beliebig lange daran versucht bestimmen? Natürlich sollten Studierende auch lernen Aufgaben einzuschätzen und Grenzen zu setzen. Es wird aber allzu leicht als Argument missbraucht, dass man ja nichts kann für die hohe Workload, die Studierenden hätten ja nicht so viel investieren müssen sondern abbrechen können.
    Da finde ich besondere, freiwillige Veranstaltungen mit denen man auf die Neigungen und Kompetenzen von Interessierten eingeht als spannenderes Konzept. Sowohl für die Studierenden, als auch Dozenten.

    Eine Diskussion über solche Inhalte ist abhängig von der Hochschule bzw. der Fakultät/Fachbereich. Deshalb habe ich geschrieben, es wäre ein Diskurs und Bereitschaft notwendig, um solche Themen gemeinsam anzugehen. Aber egal ob typisch deutsch oder allgemein menschlich, der Stillstand wird hochgehalten. Änderungen werden grundsätzlich misstrauisch gesehen und es werden erst mal alle negativen Aspekte und Gegenargumente gesucht. Wenn es keine rationalen Argumente mehr gibt, wird die „Freiheit der Forschung und Lehre“-Karte gespielt, damit ist jeglicher Kompromiss indiskutabel. Tagesgeschäft in jedem Gremium.
    An der Stelle gibt es immerhin in den letzten 10 Jahren ein kleines, von allen Seiten bekämpftes Licht, genannt Akkreditierung. Egal was die Geschichtsbücher darüber schreiben werden, sie hat es geschafft Diskussion und Bewegung in nahezu betonierten Strukturen zu erzeugen.

    Aber ich sehe schon, der letzte Absatz schweift ab. Die Lehre in den Fokus zu bringen, sie zu würdigen und zu schätzen, das würde sicherlich auch einige der „Übungssymptone“ ohne weitere Maßnahmen verschwinden lassen, da stimme ich vollkommen zu.

    Gruß
    tb

    Antworten

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